In den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigte sich der berühmte russische Maler und Kunsttheoretiker Wassily Kandinsky (†1944) mit den geometrischen Figuren und kam dabei zum Schluss:
Alles beginnt an einem Punkt. Seither wurde dieser Satz immer wieder zitiert und ist im Laufe der Jahre von der Kunsttheorie in die Populärkultur übergegangen.
Die Worte zieren nun T-Shirts, Kaffeetassen und Werbelinien von Notizbüchern. Spannend bleibt der Gedanke allemal.
Für Kandinsky war der Punkt die prägnanteste und dichteste Form, die er in Beziehung (Resonanz) zu anderen geometrischen Figuren sah. Was das heißen mag, ist wohl nicht ganz einfach zu verstehen, viel leichter können wir uns aber vorstellen, wie oft Kandinsky vor einer leeren Leinwand gesessen oder gestanden ist und nicht wusste, wie er anfangen sollte. Wohin sollte er den Pinsel zum ersten Mal setzen? Wo war der geeignete Platz für den ersten Farbakzent? Wie setzt man sinnvoll den primären Punkt, wenn doch alle weiteren Pinselstriche des schönen Gemäldes davon abhängen?
Man muss nicht Künstler sein, um zu verstehen, wie schwer es ist, mit etwas anzufangen, ist der Beginn auch noch so klein. Wir alle kennen das. Wenn ich eine Glückwunschkarte zum Geburtstag schreiben möchte oder anlässlich eines Todesfalles ein paar Zeilen an mir liebe Menschen, dann geht mir das meist gar nicht so leicht von der Hand und ich brüte lange über den ersten Worten. Doch irgendwann setze ich dann den Stift aufs Papier und aus dem ersten zaghaften Punkt werden Buchstaben, Worte und Sätze, die eine Beziehung zu anderen herstellen.
Wie oft habe ich auch schon ein Telefonat, das überfällige Gespräch, den ausstehenden Besuch oder die notwendige Hilfe hinausgezögert, bis ich endlich zu dem Punkt gekommen bin, alle Unsicherheit und Zweifel zu überwinden und einen Anfang gesetzt habe. Und siehe da, aus dem zögerlichen Beginn ist eine gute Begegnung entstanden, welche die Beziehung erneuert und in eine gute Zukunft geführt hat.
Mit dem Künstler könnte man behaupten: Es brauchte den ersten kleinen Punkt, damit ein schönes Gemälde entsteht. Aus dem Glauben, der auch Kandinsky wichtig war, sage ich: Wir fangen an, weil im noch so kleinen Anfang die Hoffnung steckt, dass alles gut ausgehen wird.
Wenn Gott in Jesus Mensch geworden ist, dann hat auch er sich einen ganz konkreten Zeitpunkt in der Geschichte und einen wahrlich kleinen Punkt auf der Landkarte ausgesucht, um mit uns Menschen neu anzufangen. Vielleicht hat auch er sich gedacht: Alles beginnt an diesem Punkt! Betlehem ist der denkbar kleinste und unbedeutendste Ort, wo der Messias zur Welt kommen kann, und der Stall mit Ochs und Esel ist offensichtlich das Gegenteil von einer weitläufigen, königlichen Palastanlage. Mit ein paar punktuell auftretenden Hirten sind nicht unbedingt hoch angesehene Mitglieder der Gesellschaft Zeugen der messianischen Geburt. Aber dennoch strahlt über dieser kleinen Idylle ein großer Himmelspunkt am nächtlichen Firmament und er leuchtet weit über Betlehem hinaus, sodass selbst weise Männer ihn sehen und sich in der Hoffnung aufmachen, einen neuen König zu finden. Die ganze Szenerie spricht eine klare Sprache:
Es mag sich etwas Kleines und Alltägliches hier abspielen, es trägt aber den Keim einer großen Zukunft, einer Hoffnung auf einen universalen Neuanfang in sich. Der Brennpunkt all dieser Hoffnung ist das Kind in der Krippe, das heranwachsen und für alle zum Messias werden wird.
Deswegen ist Weihnachten auch zum Dreh- und Angelpunkt unserer Zeitrechnung geworden und wir setzen mit der Geburt Jesu das Jahr Null unseres Kalenders an. Alles, was wir irgendwo zeitlich verorten, orientiert sich an diesem Punkt in der Geschichte. Von da aus wird jeder Moment in ein Davor und Danach gesetzt und jedes Ereignis in unserer Kulturgeschichte tritt so in Resonanz mit diesem einen, besonderen Zeitpunkt vor vielen Jahren.
Und so feiern wir auch heuer, im Jahre 2024 nach Christi Geburt, die Geburt Christi im Stall zu Betlehem und denken dabei an die Verheißung des Propheten Jesaja: »Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt. Man rief seinen Namen aus: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.« (Jes. 9,5)
Betrachtet man die Szenerie in Betlehem und das kleine Kind in der Krippe, dann scheint es schon etwas merkwürdig, dass dieser kleine Punkt im Nirgendwo der Anfang des Reiches Gottes sein soll, mit wunderbarem Ratgeber und Friedensfürst. Aber Jesaja verleiht uns die Hoffnung, dass es dazu kommen werde.
Was mag das nun konkret für Weihnachten im Jahr 2024 heißen? In einem Jahr, in dem wir in unserer Gegend schmerzlich feststellen mussten, dass uns die Natur erst durch Hitze unerträglich wird und dann durch Überschwemmungen Zerstörung bringt. Wie lässt sich Weihnachten 2024 feiern, wenn im Geburtsland Jesu ein grausamer Krieg herrscht, in der Ukraine, in Burkina Faso und vielen anderen Ländern zahllose Menschen durch bewaffnete Konflikte ihr Zuhause und ihr Leben verlieren. Kann Weihnachten sein, wenn unsere Gesellschaft zunehmend an selbstbezogener Aufgeregtheit und politischem Populismus leidet?
Ja, man könnte die Hoffnung verlieren … gäbe es nicht Weihnachten.
Denn Weihnachten heißt: Ich glaube, dass aus kleinen Anfängen – und seien es auch noch so kleine Punkte in der Geschichte – eine große und vor allem bessere Zukunft entstehen kann. Es braucht wie in Betlehem bloß den ersten, kleinen Schritt. Everything starts from a dot.
Text: Raimund Stadlmann
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