Wir leben in Zeiten, in denen traditionelle Glaubensgemeinschaften an einem spürbaren Mitgliederschwund leiden. Dies ist nicht nur ein Eindruck einzelner Gläubiger, sondern empirisch belegbar (vgl. Artikel zur Studie »Was glaubt Österreich?«). Durch diese Entwicklungen haben Religionen, Kirchen und Glaubensgemeinschaften in der Gesellschaft ihr Monopol auf Sinnstiftung und Welterklärung verloren, wie sie es etwa im Fall der christlichen Kirchen über Jahrhunderte in Europa hatten. Ja, oftmals gerät die Kirche sogar in Rechtfertigungsdruck, was eigentlich ihr Beitrag für ein fruchtbares Miteinander in einer modernen pluralistischen Gesellschaft sei. Natürlich sind Religion und Glaube weit mehr als praktisches Vehikel zur Lebensgestaltung und können nicht auf Nützlichkeit für einen oder viele Menschen reduziert werden, aber lohnenswert ist es dennoch, sich einmal dieser Frage zu stellen.
Was ist also der Beitrag von Religion(en) und welche positiven Auswirkungen auf die Gesellschaft mag es geben?
Natürlich stechen da sofort so große kirchliche Wohlfahrtsverbände wie die Caritas bzw. die Diakonie ins Auge. Zusammen arbeiten hier ca. 25.000 Personen hauptamtlich und unzählige Ehrenamtliche in den Bereichen der Pflege und Betreuung, der Hilfe für Flüchtlinge, Arme und Obdachlose und in vielen Bereichen darüber hinaus. Man kann derartige Sozialeinrichtungen rein nach betrieblichen Aspekten bewerten, aber was wäre unsere Gesellschaft tatsächlich ohne solche Organisationen, in denen mitfühlende Menschen arbeiten, die vom Auftrag Jesu Christi geleitet sind und sich für Nächstenliebe und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Das lässt sich ganz konkret an einem Beispiel ablesen: Bei dem für viele in unserem Pfarrverband verheerenden Hochwasser im September 2024 war die Pfarrcaritas unbürokratisch und schnell mit einer Geldspende zur Stelle, um erste Not zu lindern, wenigstens eine kleine Hilfe zu leisten und kurz ein offenes Ohr anzubieten.
Als im Jahr 2015 tausende Flüchtlinge nach Österreich kamen, waren es auch diese kirchlichen Einrichtungen, die einen großen Teil der Herausforderungen stemmten, weil sie es eben sind, die mit Hilfeleistung im großen Stil Erfahrung haben und diese organisieren können. In den dramatischen Wochen waren viele Glaubensgemeinschaften mit Freiwilligen dort zur Stelle, wo Hilfe gebraucht wurde. Als ein Beispiel sei das Engagement der Sikh-Religion, einer monotheistischen Glaubensrichtung aus Indien zwischen Islam und Hinduismus, der Armenspeisung wichtige Tradition ist, erwähnt. Über Monate hinweg haben sechs Sikhs am Wiener Hauptbahnhof über 400.000 Essen für Geflohene gekocht und verteilt. Nicht auszudenken, hätte der Staat auf dieses vielfältige Engagement aus religiöser Überzeugung verzichten müssen. Hier zeigte sich ein fruchtbares Miteinander von Religion und Staat als Netz der Solidarität, wie es auch Kardinal König vor Jahrzehnten schon eingemahnt hat und das sich seither nicht nur in Krisenzeiten oft als starker Schirm für Hilfesuchende erwiesen hat.
Interessant ist weiters, dass der Zulauf zu konfessionellen Kindergärten und Schulen sehr groß ist, konfessionelle Spitäler voll belegt sind und dem Trend von Kirchenflucht irgendwie entgegenstehen. Vermutlich haben die Verwalter dieser Häuser auch nichts zu verschenken, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kirchen und Orden eher bereit sind, an Aufwand, Engagement und Kapital mehr als das Notwendige für die Menschen zu investieren, damit Junge gut gebildet und Kranke anständig gepflegt und gesund werden können, ohne dabei übrigens nach dem Glauben zu fragen. Ist das nicht eindeutig Beleg für eine christliche Werthaltung, von der viele in unserer Gesellschaft profitieren?
Dies waren recht konkrete Beispiele für den Wert von Religion für unsere Gesellschaft und sicher ließen sich noch zahlreiche Initiativen nennen, wo Menschen aus ihrer Religiosität heraus Gutes tun und so einen wertvollen Beitrag über Glaubensgrenzen hinweg für die Allgemeinheit leisten. Es soll aber hier noch etwas Grundlegenderes angedacht werden, wenn in Anlehnung an den deutschen Soziologen Hartmut Rosa behauptet wird: »Demokratie braucht Religion« (Kösel-Verlag 2022).
Denn trotz aller Säkularisierungsprozesse und Auflösung traditioneller Glaubensvorstellungen muss gesagt werden, dass die Kirche ein Ort ist, der Menschen jeglichen Alters und der unterschiedlichsten Ansichten offensteht. Es ist ein Raum, der alle einlädt, über den Sinn des Lebens und die Fragen der Existenz nachzudenken, und dabei Hoffnungspotentiale in einer immer komplexeren Welt anbieten möchte. Wo hören wir in unserer modernen Welt etwa sonst noch, dass ich geliebt werde, ohne etwas leisten oder liefern zu müssen. Für Gott genügt es, zu sein, wer ich bin. Das widerspricht jedem neoliberalen Denken und modernen Druck, immer und überall entsprechen zu müssen. Vielleicht können Gläubige aus diesem Angenommensein auch etwas leichter manchen Herausforderungen trotzen und gelassener bleiben, weil sie hoffen, dass es darüber hinaus noch etwas anderes gibt. Man nennt diese Widerstandsfähigkeit heutzutage Resilienz.
Für Hartmut Rosa sind die Religionen aber noch aus einem weiteren Grund wichtig, weil er in ihnen eine zum modernen Zeitgeist alternative Weltsicht sieht. Denn Rosa reicht es nicht, wenn in einer Demokratie jede(r) eine Stimme hat, man müsse auch ein Ohr haben, nämlich ein hörendes. In seinem Buch lesen wir, »dass es insbesondere die Kirchen sind, die über Narrationen… verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann.« (S. 53)
Ein hörendes Herz … wenn das kein Beitrag für die Gesellschaft ist.
Text: Raimund Stadlmann
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